Hilfe, wir können Scrum bei uns nicht machen!

In 7 Schritten Scrum erfolgreich anwenden.

Geschrieben von Peter Beck am 14.09.2023

Vielleicht hast Du Scrum gerade kennengelernt und fragst Dich, wie soll das bei uns funktionieren? Oder im Team und Unternehmen versucht ihr schon seit längerem Scrum anzuwenden. Aber am Ende eines Sprints ist wenig bis nichts fertig. Es gibt auch kein richtiges Team, das zusammen an einem Ziel arbeitet, Retrospektiven werden erst gar nicht durchgeführt; die Liste könnte jetzt noch viel länger werden. Kurz, es scheint, dass ihr Scrum bei Euch nicht machen könnt. Andererseits ist Dir klar, Scrum richtig anzuwenden würde Euch echte Vorteile bringen. Was also tun? Der folgende Leitfaden wird Dir helfen.

1. Kläre, ob Du Scrum machen darfst?

Scrum anzuwenden erfordert vor allem Mut. 2007 habe ich Wohnung und Job gekündigt und mich auf die schwierige Suche nach einem Unternehmen gemacht, wo ich es machen durfte. Das sieht heute schon ganz anders aus. Sehr viel Unternehmen wollen Scrum machen. Nicht selten sind Mitarbeiter überrascht, dass sie damit einfach starten dürfen. Aber kann ein ganzes Unternehmen auf einen Schlag alles verlernen und die Scrum-Regeln neu erlernen? Die Antwort: JEIN. Lernen braucht Zeit und Fokus, bis man es kann. Es ist ein Investment. Es ist daher vollkommen o.k., wenn sich das Unternehmen entscheiden: erst einmal nicht. Oder nicht überall. Nur bedauerlicherweise wird diese Entscheidung oft nicht klar getroffen und kommuniziert. Ich nehme, Du hast für Dich schon entschieden, dass Du Scrum machen möchtest. Sonst würdest Du das hier nicht lesen. Du solltest aber unbedingt klären, ob ihr die Scrum-Regeln in aller Konsequenz anwenden dürft. Diese Entscheidung kann nur die Person treffen, welche die disziplinarische Verantwortung aller Mitarbeiter in dem oder den Teams vereint. Wenn Ihr dürft, ist der nächste Schritt klar: Loslegen, Disziplin halten, und die in Scrum eingebaute Lernschleife nutzen. Alle nachfolgenden Empfehlungen von mir kannst Du ignorieren. Wenn ihr nicht dürft, ist meine klare Empfehlung, es zunächst nicht anzuwenden. Besser ist es, erst die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Und damit kannst Du jetzt loslegen.

2. Führe alle 4 Wochen eine Retrospektive durch

Eine Retrospektive dient dazu, auf die vergangene Arbeit zurückzublicken und Verbesserungen im Arbeitssystem zu identifizieren. Eine einfache und sehr wirksame erste Maßnahme ist es, durch regelmäßige Retrospektiven eine Lernschleife zu etablieren. Am besten in einem Rhythmus, wie ihn Scrum mit seinen Sprints vorsieht. Die Wirkung ist am größten, wenn möglichst viele an der Retrospektive teilnehmen. Wenn das am Anfang nicht der Fall ist, ist das nicht schlimm. Anfangen ist besser als Warten. Und auch in einer kleinen Gruppe lassen sich erste Verbesserungen identifizieren. Nach und nach sprechen sich die Vorteile einer regelmäßigen Retrospektive herum und die Beteiligung steigt. Zur Gestaltung und Moderation gibt es hervorragende Literatur. Mein Tipp: Beauftrage einen professionellen Moderator.

Einer meiner Beratungskunden hat dieses Modell so weit entwickelt, dass das gesamte Unternehmen mit fast 100 Mitarbeitern alle 4 Wochen eine Großgruppen-Retrospektive durchführt. Das hat viel mit dem nächsten Schritt zu tun.

3. Verbessere alle 4 Wochen etwas an Eurem Arbeitsprozess

Was nützen die besten Verbesserungsvorschläge, wenn sie nicht umgesetzt werden? Vor allem Frustration. Das Geheimnis einer guten Retrospektive liegt nicht darin, 10 Ideen zu produzieren, sondern eine Verbesserung tatsächlich umzusetzen. Dein Beitrag dazu: Sorge dafür, dass alle 4 Wochen eine Sache verbessert wird. Das schafft Vertrauen in das Prinzip “Überprüfen und Anpassen”. Aber Vorsicht: Nicht jeder Verbesserungsvorschlag führt am Ende zu einer echten Verbesserung. Deshalb mein Tipp: Vereinbare ein Experiment für eine gewisse Zeit und prüfe, ob tatsächlich eine Verbesserung eintritt. Das passiert vor allem dann, wenn alle Beteiligten mitmachen. Das war auch der Grund, warum das Unternehmen, von dem ich im letzten Absatz berichtet habe, die Retrospektive mit allen Mitarbeitern durchgeführt hat. Einschließlich der Geschäftsführung. In einem Experiment wurden während der Retrospektive einfach 3 Teams aufgelöst und neue gebildet. Schon am nächsten Tag wurde in der neuen Konstellation gearbeitet.

Den meisten wird nach diesen beiden Maßnahmen klar, dass es besser wäre, die Scrum-Regeln gleich konsequent anzuwenden. Oft genug kommt es aber vor, dass die Verbesserungen nicht greifen, weil das Problem nicht wirklich verstanden wurde. Deshalb Maßnahme 4:

4. Mache den Weg vom Konzept zum Wert für alle transparent

Was erwarten wir von einer Verbesserung? Gute Frage, aber nicht einfach zu beantworten. Die Antwort der Geschäftsführung wird mehrheitlich in diese Richtung gehen: Mehr Wert in kürzerer Zeit. Das ist immer noch eine recht grobe Formel, aber sie trifft genau das, woran sich ein Unternehmen letztlich messen lassen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ein gutes Maß für den Wert kann zum Beispiel die Kundenzufriedenheit sein. Je schneller wir einen vermeintlichen Kundenwert schaffen, desto besser können wir lernen, ob wir den Wert wirklich verbessert haben. Wer Scrum kennt, weiß, dass dieses Prinzip dort fest verankert ist. Um ein Problembewusstsein zu schaffen, ist es daher sinnvoll, den Arbeitsfluss von der Idee eines Kundennutzens bis zur fertigen Funktionalität für den Kunden für alle transparent zu machen. Dies kann elegant mit einem Kanban-System erreicht werden.

5. Reduziere die Anzahl der aktiven Projekte um 80%

Diese Maßnahme könnte ich auch als Nr. 1 auf meine Liste setzen. Wenn ich als Berater von Unternehmen gerufen werde, dann erkläre ich dem Management, dass sie sehr wahrscheinlich 80% ihrer Projekte stoppen müssen. Das glaubt mir keiner. Dann fangen wir mit Scrum an oder machen die Schritte 1-4. Und siehe da: Es wird klar, dass die meisten Probleme nur Symptome eines Grundproblems sind. Die Leute arbeiten an zu vielen Projekten gleichzeitig. An zu vielen Themen gleichzeitig zu arbeiten ist übrigens nur allzu menschlich. Welches Medium konsumierst Du gerade, während Du diesen Artikel liest? Dieses Hin- und Herspringen macht jeden von uns und erst recht unser Arbeitssystem ineffektiv. Es führt zu Fehlern und verlangsamt die Fertigstellung. Echte Überprüfung und Anpassung findet nicht oder zu spät statt. Als Organisation lernen wir nicht mehr dazu. Ein Teufelskreis. Durch die Schritte 1-4 hast Du nun ein Problembewusstsein geschaffen. Überzeuge jetzt den Entscheider über die Projekte im Unternehmen, dass eine Entscheidung getroffen werden muss.

6. Identifiziere das Produkt

Jetzt braucht es nur eines, um richtig Scrum zu machen: Ein Produkt. Vermutlich habt ihr um Unternehmen schon ein Produkt oder einen Service. Sonst würde es Euch ja nicht geben. Um wenigstens mit einem Team starten zu können, müssen wir vielleicht ein Teilprodukt erst einmal definieren. Perfekt ist dazu ein neues Produkt geeignet, was unabhängig vom bestehen Service entwickelt und vom Kunden genutzt, werden kann. Das ist aber nur selten der Fall. Denn auch jedes neue Produkt wird größtenteils verzahnt mit dem Rest sein. Das macht die Weiterentwicklung des Produkts aber langsam. Denn umso mehr wir verzahnt mit anderen Produktteilen und damit Teams und Abteilungen sind, um so mehr müssen wir aufeinander warten. Welche Teile des Produkts und Service voneinander wenig Abhängigkeiten in der Abstimmung haben, erkennt meist schon recht gut an Eurem Kanban-System. Meine Lieblingsmethode, um mögliche Produktschnitte zu erkennen, ist allerdings Wardley Mapping. Es ist natürlich auch möglich, gleich mit mehre Teams zu starten, die zusammen an einem, deutlich größerem Produkt arbeiten. Meine Erfahrung hat aber gezeigt, das funktioniert bei guter Vorbereitung nur bis maximal 7 Teams.

7. Loslegen!

Die Maßnahmen 1 bis 6 haben den Grundstein gelegt. Jetzt kann es losgehen. Für den Produktteil oder das neue Produkt braucht es nur noch ein Team oder vielleicht auch mehrere Teams. Das Team oder die Teams zusammenzustellen ist einfacher, als Du vielleicht denkst. Einfach die Mitarbeiter fragen. Zum Beispiel brachten wir als Coaches bei einem Multi-Team-Scrum dazu alle relevanten Mitarbeiter in einen großen Meetingraum. Das Produkt wurde noch einmal kurz vorgestellt. Die Scrum-Regeln waren allen schon bekannt. Es wurde aufgezeigt, wie ein gutes Team aufgebaut sein soll. Und nun geschah die Magie: An einer großen Wand konnten die Mitarbeiter mit Post-its und Karten die Teams selbst zusammenstellen. Da auch die Teamzusammenstellung ein Experiment war und demnach nach dem ersten Sprint wieder angepasst werden konnte, war das für alle leicht zu akzeptieren. Und schon am nächsten Tag wurde der erste Sprint geplant. Ich habe solche Team-Self-Selection-Workshops schon oft miterlebt. Interessant ist es jedes Mal wieder festzustellen, wie gut die Teams schon nach dem ersten Workshop zusammengestellt sind.

Braucht es wirklich die Schritte 1-7?

Die Antwort ist: Nein. Mit Scrum lässt sich binnen weniger Tage starten. Sogar mit mehreren Teams. Es ist alles nur eine Frage des Wollens. Die Entscheidung sollte allerdings bewusst getroffen werden. 50 Mitarbeiter von heute auf morgen zu reorganisieren, ist ein großes Investment. Mit 5 Kollegen und Kolleginnen in einem Scrum Team zu starten, hört sich schon wesentlich leichter an. Wenn das Team allerdings nicht befähigt ist und halbwegs unabhängig etwas Ende-zu-Ende fertigzustellen darf, wird Scrum keinen Mehrwert stiften - ganz im Gegenteil. Mein Kollege Andy würde sagen, Scrum wird zum Problem. Und eine 2. Chance es richtigzumachen wird nicht geben. Da ist es dann besser, den ersten Sprint gut vorzubereiten. Und damit kannst Du jetzt, sofort starten.

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